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Si tacuisses:

Wann darf ich, wann muss ich den Patienten oder Dritte bei Behörden anzeigen?

Kommt ein Mann mit Hautverletzungen zum Arzt: „Ich habe mich am Flughafen festgeklebt und ich würde es wieder machen. Nota bene Herr Doktor, ich bin da schon wieder was am Planen...“


Absurdes Szenario? Vielleicht sind es nicht unbedingt die Klimakleber, die den Arzt in ein ethisches Dilemma treiben. Nicht selten jedoch sehen Ärzte sich im Zuge einer Patientenbehandlung mit einer Situation konfrontiert, in der sie sich die Frage stellen, ob die ihnen durch den Patienten anvertrauten Informationen Anlass zu Handeln geben, welches über die rein medizinische Behandlung hinausreichen würde.
Von Dritten ausgeübte Gewalthandlungen am Patienten z.B. dürften den Arzt regelmäßig zum Nachdenken bringen, insbesondere wenn von Patientenseite berichtet wird, dass es sich nicht um einen erstmaligen Vorfall handelt (z.B. häusliche Gewalt in der Familie) und/oder künftige Wiederholungen zu befürchten sind. Darf der Arzt in solchen Fällen den Vorgang zur Anzeige bringen? Was blüht ihm, wenn er es nicht tut?

I. Grundsatz: Ärztliche Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht (§ 203 Abs. 1 StGB) gebietet natürlich eine grundsätzliche Verschwiegenheit, solange der Patient nicht freiwillig seine Zustimmung erteilt, den betreffenden Vorfall zu melden.
Doch gibt es Ausnahmen, welche hier in den Blick genommen werden sollen. Insbesondere stellt sich in derartigen Konstellation die Frage, ob der Arzt nicht nur zur Anzeige berechtigt ist, sondern auch, ob er gegebenenfalls sogar dazu verpflichtet ist.
Zu unterscheiden ist einmal zwischen der Art des Deliktes (Körperverletzung, Vergewaltigung etc. oder etwa „nur“ Vermögensdelikte (Diebstahl etc.)).
Zum anderen, ob es sich um einen abgeschlossenen Sachverhalt handelt oder ob Wiederholungen in der Zukunft zu befürchten sind.

Dabei sind die folgenden rechtlichen Regelungskomplexe bestimmend:

II. § 138 StGB „Nichtanzeige geplanter Straftaten.“
Das Strafgesetzbuch befasst sich in § 138 StGB mit der strafbaren „Nichtanzeige geplanter Straftaten.“ Ein wesentlicher Gesichtspunkt, der hierbei zu beachten ist, ist der, dass es nach klarem Willen des Gesetzgebers gerade keine allgemeine Pflicht zur Anzeige geplanter Straftaten oder gar zu deren Verhinderung gibt. Wer will, mag es auf die griffige Formel bringen: Der Staat übt Zurückhaltung dabei, dass Denunzieren durch Strafandrohung aktiv einzufordern.

a) Straftatenkatalog des § 138 StGB
Anstelle einer allgemeinen Pflicht zur Anzeige von Straftaten sieht das Gesetz in § 138 StGB einen Katalog von Delikten vor, bei denen der Gesetzgeber explizit eine solche Pflicht anordnet.
Wer sich als Arzt für die Durchbrechung der Schweigepflicht auf diese Norm berufen will (um mithin eine Strafbarkeit von sich selbst abzuwenden), muss sich auf eine in § 138 StGB aufgeführten Katalogtat berufen können. Dabei mag sich dem unbefangenen Leser der Norm nicht unbedingt erschließen, was der Grund für die Aufnahme des jeweiligen Deliktes in den Katalog der anzeigepflichtigen Taten gewesen sein mag. So führt die Vorschrift nicht nur die Delikte Hochverrat, Landesverrat, Gefährdung der äußeren Sicherheit, Mord, Totschlag oder Völkermord an. Vielmehr finden sich dort auch die Geld-oder Wertpapierfälschung und die Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion. Nicht jedoch Körperverletzung oder Vergewaltigung.
Aus ärztlicher Sicht typischerweise interessant, wenn auch teilweise sicher ungewöhnlich, sind wohl noch die Fälle des § 138 Abs. 1 Nr. 6 StGB: Schwerer Fall von Menschenhandel mit Opfern, die zur Zeit der Tat unter 18 Jahre alt sind bzw. mit körperlich schwerer Misshandlung, Gefahr des Todes oder schwere Gesundheitsschädigung einhergehenden Tatbegehung bzw. gewerbsmäßiges Handeln des Täters oder als Mitglied einer Bande (§ 232 Abs. 3 S. 2), § 232a Abs. 3, 4 oder 5 (schwere Zwangsprostitution) oder § 232b (Zwangsarbeit), § 233a (Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung), § 234 (Menschenraub) § 234 a (Verschleppung) § 239 a (Erpresserischer Menschenraub) und § 239b (Geiselnahme).
In den Blick genommen, doch aus ärztlicher Sicht tendenziell weniger relevant, werden ferner gemäß § 138 Abs. 1 Nr. 7 der Raub bzw. die räuberische Erpressung (§§ 249-251 oder 255 StGB). Ferner gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306-306c (Brandstiftung, Schwere Brandstiftung, besonders schwere Brandstiftung, Brandstiftung mit Todesfolge). Sodann Taten nach § 307 (Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie), § 308 (Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion) § 309 (Missbrauch ionisierender Strahlen) § 310 (Vorbereitung eines Explosions-oder Strahlungsverbrechens), § 313 (Herbeiführen einer Überschwemmung), § 314 (Gemeingefährliche Vergiftung) § 315 Abs. 3 (Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-und Luftverkehr),§ 315b Abs. 3 (Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr), § 316a (Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer) oder § 316c (Angriffe auf den Luft-und Seeverkehr).
Aus der vorstehenden Aufzählung der verschiedenen Delikte, die mitunter nur schwere Begehungsformen eines bestimmten Deliktes erfasst, dürfte im Übrigen klar werden, dass die juristische Subsumtion im Einzelfall schwierig geraten kann. Ein Arzt, der sich mit dem Gedanken trägt, eine geplante Straftat zur Anzeige zu bringen, ist in jedem Fall gut beraten, sich anwaltlich beraten zu lassen.

b) Zukünftige Taten, nicht solche der Vergangenheit
Voraussetzung einer Strafbarkeit wegen Nichtanzeige derartiger Taten ist allerdings, dass der Täter zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft von dem Vorhaben oder der Ausführung erfährt und es dennoch unterlässt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen. Mit anderen Worten: Es geht um Taten der Zukunft, nicht um solche der Vergangenheit.

c) Glaubhaftes Erfahren von geplanten Taten
Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Nichtanzeige ist ferner, dass glaubhaft von dem Vorhaben oder der Ausführung des Delikts erfahren wird. Bloße Gerüchte sollen nicht zur Anzeige verpflichten. Für den Arzt bedeutet dies, dass er das, was der Patient zu eigenen Erfahrungen und drohenden Wiederholungen berichtet, tendenziell ernst nehmen muss. Nicht aber unbedingt das, was der Patient ohne eigene Betroffenheit und eher im Wege des Klatschens und Tratschens über Dritte berichtet.

III. Rechtfertigung der Anzeige durch § 34 StGB (rechtfertigender Notstand)
Schließlich kommt auch eine Rechtfertigung einer Anzeige nach den Regeln des rechtfertigenden Notstandes in Betracht (§ 34 StGB). Danach handelt nicht rechtswidrig, wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Dem Arzt, der sich auf diese Norm berufen will, kommt natürlich keine enumerative Aufzählung von Katalogtaten (wie bei § 138 StGB) zur Hilfe. Vielmehr ist hier echte juristische Subsumtionsarbeit zu leisten. Der Arzt muss darlegen können, dass im Konflikt zwischen zwei Rechtsgütern er sich zurecht für den Schutz des einen entschieden hat, zulasten des anderen.
Die Ärztekammern nennen hier etwa zur Orientierung solche Fälle, in denen ein Patient die Absicht äußert, trotz schwerer Beeinträchtigung (durch Intoxikation, Epilepsie etc.) am Straßenverkehr teilzunehmen, obwohl er dadurch sich oder Dritte gefährden würde.

VI. Besondere Vorschriften betreffend die Kindesmisshandlung, § 4 KKG
Von besonderer Bedeutung für den ärztlichen Wirkungskreis ist schließlich § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Die Norm wurde eigens geschaffen, um typische Konfliktkonstellationen der hier dargestellten Art zu erfassen. Die Vorschrift lautet:


„(1)Werden
1.
Ärztinnen oder Ärzten, Zahnärztinnen oder Zahnärzten Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
2.
Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
….
in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.

(2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren.
(3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen. Die Sätze 1 und 2 gelten für die in Absatz 1 Nummer 1 genannten Personen mit der Maßgabe, dass diese unverzüglich das Jugendamt informieren sollen, wenn nach deren Einschätzung eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Jugendamtes erfordert.“

Dem Arzt, der im Zuge der Behandlung von einer Misshandlung von Minderjährigen Kenntnis erlangt, wird mithin eine besondere Befugnis eröffnet, dies dem Jugendamt zu melden und die Situation einer im Interesse des Minderjährigen liegenden Lösung zuzuführen.
Ein derartiges Handeln des Arztes wird mithin durch diese Norm sanktioniert, die Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht wird damit expressis verbis durch den Gesetzgeber gerechtfertigt.

Dr. Philipp Brennecke, LL.M.oec.


Link zum Focus-Beitrag

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