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Zur hypothetischen Einwilligung des Patienten

BGH (VI. Zivilsenat), Urteil vom 02.07.2024 – VI ZR 363/23

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt nimmt der Kläger die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung in Anspruch. Der Kläger wurde 2010 in der 23. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 610 Gramm in dem von der Beklagten zu 2 betriebenen Klinikum geboren und im Anschluss dort in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin intensivmedizinisch betreut. Bei ihm wurde ein offener Ductus arteriosus Botalli mit linksrechts-Shunt, zerebraler Minderperfusion sowie Lungenüberflutung festgestellt, der zunächst medikamentös behandelt wurde. Wegen klinischer Instabilität und schwankender Blutdruckwerte wurde dem Kläger zur Blutdruckmessung ein arterieller Katheter in die Arteria radialis des linken Arms gelegt. Da Durchblutungsstörungen der Arterie auftraten, wurde der Katheter wieder entfernt. Da der Ductus arteriosus Botalli mit der zunächst durchgeführten medikamentösen Therapie nicht zum Verschluss gebracht werden konnte, wurde die Indikation zum operativen Verschluss gestellt. Dieser Eingriff wurde in der Herzchirurgie durchgeführt. Zu diesem Zweck legte der Beklagte zu 1 dem Kläger am Morgen des 8. Juni 2010 einen Verweilkatheter zur Blutdruckmessung in die Arteria brachialis des linken Arms. Der Kläger wurde nach H. verlegt und operiert; obwohl sich bei der postoperativen Umlagerung des Klägers in den Transportinkubator durch Mitarbeiter der Beklagten eine Verfärbung der linken Hand des Klägers gezeigt hatte, die auf eine eingetretene Durchblutungsstörung hindeutete, wurde der Katheter nicht entfernt. Stattdessen wurde der Kläger mit dem liegenden Katheter zurück in das von der Beklagten zu 2 betriebene Klinikum transportiert. Nach Rückkehr des Klägers war keine arterielle Blutdruckkurve am Monitor mehr ableitbar. Es bestanden sichtbare Zeichen einer schweren Durchblutungsstörung. Der arterielle Katheter wurde um 16.30 Uhr gezogen. Aufgrund der eingetretenen Mangelversorgung des linken Unterarms des Klägers kam es in der Folge zu einem vollständigen Absterben des Gewebes der linken Hand und des linken Unterarms, was zu einer Amputation der linken Hand und des linken Unterarms führte.
Kläger machte geltend, es sei fehlerhaft gewesen, einen Katheter in die Arteria brachialis zu legen. Dies sei weder für die Operation noch für den Transport erforderlich gewesen. Außerdem seien seine Eltern über das Risiko dieser Katheteranlage, insbesondere über die Möglichkeit des Verschlusses der Arterie und des möglichen Verlustes des Unterarms nicht aufgeklärt worden. Auch über etwaige Behandlungsalternativen sei nicht gesprochen worden. Hinsichtlich der Verweilkanüle habe es Alternativen gegeben.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht Mannheim hat die Beklagten nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der im Verfahren der Gutachterkommission tätigen Sachverständigen und Anhörung dieser Sachverständigen zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 100.000 €, zur Erstattung von Fahrtkosten und von Rechtsanwaltskosten verurteilt und die Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden festgestellt. Die Zahlung eines weitergehenden Schmerzensgeldes und einer zusätzlich begehrten Schmerzensgeldrente gerichtete Klage hat das Landgericht abgewiesen.
In zweiter Instanz hat das zuständige Oberlandgericht Karlsruhe bei der Beklagten zu 2 drei zuzurechnende Behandlungsfehler und zwei Behandlungsfehler des Beklagten zu 1 festgestellt, die aber jeweils nicht kausal für den Eintritt des Schadens waren. Es hat darüber hinaus einen Aufklärungsfehler in Bezug auf die Anlage eines Arterienkatheters bejaht. Dieses Versäumnis führe aber nicht zur Haftung, da nicht plausibel sei, dass die Eltern eine das Leben des Kindes rettende Operation bei ordnungsgemäßer Aufklärung abgelehnt hätten. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil nach Einholung eines neonatologischen Gutachtens des Dr. W. und Anhörung des Sachverständigen abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung des Klägers hat das OLG zurückgewiesen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Darüber hinaus verfolgt er seinen auf Zahlung einer Schmerzensgeldrente gerichteten und zum Gegenstand der Anschlussberufung gemachten Klageantrag weiter.
Der BGH stellte fest, dass die fehlerhafte Anlage des Katheters sowohl äquivalent als auch adäquat kausal für die Durchblutungsstörungen war. Der BGH kritisiert die unzureichende Berücksichtigung der Sachverständigenausführungen und die fehlerhafte Bewertung der unterlassenen Durchgängigkeitsprüfung der Arterien. Auch die Beurteilung der unterlassenen Entfernung des Katheters nach der Operation und die Annahme einer hypothetischen Einwilligung der Eltern des Klägers wurden als rechtsfehlerhaft angesehen. Zudem begegnen die Erwägungen des Berufungsgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken, bezüglich der fehlenden Einwilligung der Eltern des Klägers in die Anlage des Katheters. Diese führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs, weil nicht plausibel sei, dass sie bei Aufklärung auch über die Gefahr des Extremitätenverlusts eine das Leben des Kindes rettende Operation abgelehnt hätten. Zwar kann sich der Behandelnde, wenn die Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen genügt, darauf berufen, dass der Patient auch im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte (§ 630h Abs. 2 Satz 2 BGB). Auch ist der Behandelnde für seine Behauptung, der Patient hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt, erst dann beweisbelastet, wenn der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er – wäre er ordnungsgemäß und vollständig aufgeklärt worden – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Vom Patienten nicht zu verlangen ist dagegen, dass er plausibel macht, er hätte sich im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung tatsächlich gegen die durchgeführte Maßnahme entschieden. Der Patient muss lediglich einen echten Entscheidungskonflikt, nicht hingegen ein anderes Entscheidungsergebnis im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung plausibel machen. Maßgeblich ist insoweit allein die persönliche Entscheidungssituation des konkreten Patienten aus damaliger Sicht, nicht hingegen, ob ein „vernünftiger“ Patient dem entsprechenden ärztlichen Rat gefolgt wäre. Feststellungen hierzu darf der Tatrichter dabei grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen.

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